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46 Wie fliegen Vögel mit Plastik im Magen?

Wie fliegen Vögel mit Plastik im Magen?

Der Tod der jungen Albatrosse

Der entscheidende Augenblick im Leben eines Albatrosjungen ist der Moment, in dem es Anlauf nimmt, um sich zum ersten Mal in die Luft zu erheben. Es hat nur eine einzige Chance. Gelingt der Start, kann ein Albatros über 60 Jahre alt werden und sich sehr lange fortpflanzen.
Ein Weibchen aus der Familie der Laysanalbatrosse hat mit 67 Jahren noch ein Ei ausgebrütet. Scheitert der Flugversuch jedoch, ertrinkt das Albatrosjunge oder es bleibt zurück und verhungert. Während sich die Körper der toten Meeresvögel am Strand allmählich zersetzen, zeigt sich der Grund für ihr trauriges Schicksal: Ihre Mägen sind mit Plastikteilen gefüllt.

Albatrosse sind schöne, sagenumwobene Tiere. Sie gehören zu den größten flugfähigen Vögeln der Welt und sind die ausdauerndsten Flieger unseres Planeten. Bis zu dreieinhalb Meter kann ihre Flügelspannweite betragen. Ohne ihre Flügel zu bewegen, allein vom Wind getragen, gleiten sie über die Weltmeere der südlichen Halbkugel und legen täglich Tausende von Kilometern zurück. Viele Tiere umrunden die gesamte Erde. Lange haben Seefahrende den Albatros für die Seele eines ertrunkenen Matrosen gehalten, weil der übernatürlich anmutende Vogel ihren Schiffen oft tage- oder wochenlang gefolgt ist, ohne jemals auszuruhen. Albatrosse schlafen sogar in der Luft.

Eine der größten Albatroskolonien befindet sich im Pazifik zwischen Japan und Kalifornien auf den Midwayinseln, 3.000 Kilometer vom Festland entfernt. Die Inseln liegen am Rande des Pazifischen Müllstrudels, einer riesigen Fläche aus Plastikmüll. Eine der Inseln heißt auf Hawaiianisch Pihemánu – das bedeutet: Das laute Geschrei der Vögel. Zwischen den Ruinen eines verlassenen amerikanischen Luftwaffenstützpunktes treffen sich dort jedes Jahr, neben vielen anderen Seevögeln, auch über eine Million Schwarzfuß- und Laysanalbatrosse, um sich zu paaren und zu brüten. Sie nehmen sich für beides viel Zeit. Mehrere Jahre lang versammeln sich die jungen Albatrosse während der Brutsaison auf der Insel, bevor sie ihr erstes Ei ausbrüten. Ihre faszinierenden Paarungstänze dienen aber nicht nur der Partnerwahl. Der sich über Jahre hinziehende Tanz hilft den Paaren, sich gegenseitig immer besser kennenzulernen. Was mit einem wilden Singen, Schreien und Schnäbelklappern beginnt, endet als Synchrontanz, bei dem die Paare ihre Bewegungen genau aufeinander abstimmen. Es ist wichtig für die Vögel, den richtigen Partner oder die richtige Partnerin zu finden, denn sie bleiben ein Leben lang zusammen und müssen sich aufeinander verlassen können, wenn sie ihre Jungen aufziehen. Nichts darf dabei schiefgehen, denn die Weibchen legen höchstens einmal im Jahr ein Ei. Die Arbeitsteilung beginnt bereits beim Ausbrüten. Während einer der beiden Albatrosse bei Kälte, Sturm oder Hitze und trotz Hunger und Durst auf dem Ei ausharrt, ist das andere Tier oft tagelang auf dem Meer unterwegs, um Nahrung zu finden. Nach zwei Monaten schlüpft das Küken, das kann zwei Tage lang dauern. Die Eltern könnten ihm dabei helfen, aber das tun sie nicht, denn es ist wichtig, dass das Kleine Kraft entwickelt, indem es sich allein aus der harten Schale befreit. Die Eltern begnügen sich damit, das Küken mit ihren kräftigen Schnäbeln ermutigend und liebevoll zu streicheln. Während der nächsten Monate füttern sie ihr Junges, und das ist für beide eine Vollzeitbeschäftigung. Tagelang fliegen sie Tausende von Kilometern, bevor sie mit gefülltem Magen zurückkehren und ihrem Jungen die vorverdaute Nahrung in den Schnabel füllen.

So leben die Albatrosse seit Millionen von Jahren, und immer hat das Meer sie mit gesunder, organischer Nahrung versorgt. Ihr Instinkt sagt ihnen, dass sie dem Meer vertrauen können. Sie wissen nicht, dass die Ozeane sich seit Jahrzehnten mehr und mehr mit Plastikmüll füllen. Sie wissen auch nicht, dass sie in kilometerlangen Fischfangleinen hängenbleiben können, deren Köder sie mit Nahrung verwechseln. Sie ahnen nicht, dass sie nicht nur Tintenfische und Krebstiere schlucken, sondern auch Zahnbürsten, Schraubverschlüsse und Plastikgabeln, die die zarten Schleimhäute ihrer Küken verletzen, wenn sie damit gefüttert werden.

Nach sieben Monaten ist die Aufgabe der Eltern beendet, und sie kehren aufs Meer zurück. Von nun an müssen die Jungen selbst für sich sorgen, doch die nächste Mahlzeit befindet sich möglicherweise sehr viele Kilometer entfernt. Hunderttausende junger Albatrosse stehen dann gleichzeitig mit weit ausgebreiteten Flügeln am Strand. Alle warten auf den richtigen Wind, der ihnen als Starthilfe dient. Gelingt es ihnen, sich in die Luft zu erheben, werden sie die nächsten drei bis fünf Jahre auf dem Meer verbringen, bevor sie zum Paaren auf die Insel zurückkehren. Wenn der Flugversuch hingegen missglückt und sie in den Wellen landen, ist das ihr Ende. Werden ihre Flügel stark genug sein?

Eine wichtige Aufgabe müssen die jungen Albatrosse vor ihrem ersten Flug jedoch noch erledigen: Sie müssen ihren Magen von allem entleeren, das sie bisher nicht verdauen konnten. Aber wenn nun die harten Gegenstände, mit denen ihre Eltern sie unwissentlich gefüttert haben, zu groß oder zu scharf sind, um ausgespuckt zu werden? Wenn spitze Plastikteile, Filzstifte oder Cremeflaschen in ihrem schmalen Hals steckenbleiben? Tausenden von jungen Vögeln passiert genau das, und es ist ihr Todesurteil. Sie bleiben an Land, weil sie nicht abheben können, und sterben langsam und qualvoll.

Der Fotograf Chris Jordan hat eine Fotoserie über die Laysanalbatrosse auf Pihemánu gemacht. Eigentlich wollte er nur ein einziges Mal auf die Insel reisen, aber der Anblick der vielen toten Vogeljungen mit Bäuchen voller Plastikteile hat ihn derart erschüttert, dass er mehrmals zurückgekehrt ist, um einen Dokumentarfilm zu drehen. Die Albatrosse haben ihm vertraut und ihn mit seiner Kamera ganz nah an sich herangelassen, denn sie kennen keine natürlichen Feinde auf den Inseln. Ihre Feinde sind der steigende Meeresspiegel, die immer heftigeren Stürme, der moderne Fischfang – und die Plastikabfälle im Meer.

Annette Herzog, basierend auf dem Film “Albatross” von Chris Jordan

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