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Was ist das Problem mit Müll?

27 Kann man von Müll leben?

Kann man von Müll leben?

Müllsammeln in Nordmazedonien

Zekia Memedov lebt vom Müll, seit sie sich erinnern kann. Schon als kleines Mädchen hat sie Müllcontainer durchsucht, statt in die Schule zu gehen. Sie hat daraus hervorgeholt, was sie verkaufen konnte. Später haben ihre eigenen Kinder dasselbe getan. Alle in der Familie müssen zum Lebensunterhalt beitragen, für die Schule bleibt da kaum Zeit. Außerdem rümpfen andere in der Klasse die Nase über die Müll sammelnden Kinder. »Du stinkst! Du hast Läuse!«, rufen sie. Wie soll man sich auch waschen, wenn man zu Hause nicht einmal fließend Wasser hat.

Zekia ist 47 Jahre alt und lebt in Nordmazedonien, mitten in Europa. Genau wie ihr Mann Rahim gehört sie zu den Rom*nja, einer europäischen Minderheit, deren Angehörige meist arm sind und von der Gesellschaft diskriminiert werden. Bis vor kurzem hat Zekia mit etwa 50 anderen Rom*nja in einem Lager aus Zelten und improvisierten Verschlägen am Fluss Vardar am Rand der Hauptstadt Skopje gewohnt. Ihr Mann Rahim ist in einem Waisenheim aufgewachsen und hat als Einziger der Gemeinschaft einen Schulabschluss. Das bringt ihm die Achtung der anderen ein, auch wenn Rahim seine Berufsausbildung als Baggerfahrer vorzeitig abgebrochen hat. Zekia war 16 Jahre alt und Rahim 17,
als ihr erster Sohn geboren wurde. Später kamen sechs weitere Kinder hinzu. Ihre Behausung ist mit Gegenständen ausgestattet, die sie gefunden haben. Alle im Lager waschen sich und ihre Kleidung mit Flusswasser, und sie essen, was sie von ihrem geringen Lohn erwerben können. Es ist weder ausreichend noch gesund. Dabei leisten sie mit ihrer Arbeit einen wichtigen Beitrag für die Umwelt: Sie sammeln 80% des Mülls, der später recycelt werden kann. In den Ländern, in denen es keine funktionierende öffentliche Mülltrennung gibt, übernehmen immer die ärmsten Randgruppen der Gesellschaft diese undankbare Aufgabe und werden dafür doppelt verachtet. Aber für viele Menschen ist diese Arbeit die einzige Möglichkeit, sich selbst zu versorgen.

Schon früh am Morgen ziehen die Familien los, die Männer getrennt von den Frauen, die mit ihren jüngsten Kindern zusammen gehen. Jugendliche ab 11 Jahren bleiben in Gruppen. Sie haben Fahrräder mit Anhängern und reichlich Platz für die großen Säcke, in die der Müll sortiert wird. Zekia weiß genau, wann die Menschen in den Wohnvierteln Skopjes zur Arbeit gehen und auf dem Weg ihre Tüten mit Haushaltsmüll entsorgen. Müll wird in Nordmazedonien kaum getrennt. Egal ob Glas, Papier, Plastik, Essensreste, Windeln oder giftige Reinigungsmittel – alles landet in einem Container. Oft sind es die Kinder, die hineinklettern und das herausfischen, was sich zu Geld machen lässt. Früher waren es Pappe, Papier, Glas und Metalldosen, heute sind es vor allem PET-Flaschen. Ob Zekia und Rahim Pappe und Papier sammeln, hängt von den aktuellen Preisen ab. Oft lohnt es sich nicht. Plastiktüten lassen sie liegen, sie wiegen nichts und bringen keinen Verdienst. Auch Verpackungen, die aus mehreren Sorten Plastik bestehen, haben keinen Wert.

Die Arbeit ist ungesund und gefährlich. Manchmal explodieren Sprayflaschen. Manchmal ist ein toter Hund in eine Plastiktüte gewickelt. Wenn sie sich an scharfen Glas- oder Metallkanten

schneiden, verbinden sie ihre Wunden mit schmutzigen Lappen. Sie kommen mit giftigen Stoffen und mit Fliegen, Ratten und Kakerlaken in Kontakt, die Krankheiten übertragen können. Viele Menschen, die ihren Lebensunterhalt mit Müllsammeln verdienen, leiden an Hautausschlägen, Magen-Darm-Krankheiten, Typhus oder Cholera. Oft haben sie keine Krankenversicherung und kaum Zugang zu medizinischer Hilfe.

Da die Müllsammelnden mit ihrer Arbeit etwas Nützliches für die Umwelt leisten, werden sie von den Behörden als »grüne« Arbeitskraft bezeichnet. Die Menschen selber sehen sich so nicht, für sie geht es nur ums Überleben. Oft legen sie 40 Kilometer am Tag zurück. Abends geben sie ihren Ertrag bei einer privaten Sammelstelle ab. Im Durchschnitt erhalten sie 0,16 Euro pro Kilogramm Plastik. Die Sammelstelle verkauft das Kilo für drei Euro weiter. Auch andere verdienen gut am Weiterverkauf und Export von Müll, der recycelt werden kann und somit Rohstoffe spart. Ein Mann kann an einem Tag zwischen acht und neun Euro verdienen. Frauen, die während der Arbeit auf ihre Kinder achten müssen, sammeln oft weniger und verdienen meist nur die Hälfte. Dieses Einkommen liegt unter der Armutsgrenze.

Trotzdem leben 3.000 der etwa zwei Millionen Einwohner*innen Nordmazedoniens vom Müllsammeln. Auch in Südamerika, Indien oder auf den Philippinen gibt es viele Müllsammler*innen, doch dort haben sie sich inzwischen zu Genossenschaften zusammengeschlossen, die ihnen einen festen Lohn, eine Krankenversicherung und bessere Arbeitsbedingungen garantieren.

Genossenschaften können auch Kredite bei den Banken aufnehmen und Fahrzeuge und Maschinen kaufen, die den Müll sortieren, zer- kleinern oder zusammenpressen. So können die Müllsammler*innen ihn ohne Zwischenhandel weiterverkaufen und verdienen mehr.

Dieses Modell haben die nordmazedonischen Müllsammler*innen noch nicht entwickelt. Es gibt aber Organisationen, die ihnen helfen. Sie fordern zum Beispiel, dass die Menschen von den Entsorgungs- und Recycling betrieben fest angestellt werden. Auf diese Weise könnte man ihre Erfahrungen mit Mülltrennung nutzen, denn niemand kennt sich mit dem Abfall der Konsumgesellschaft so gut aus wie sie. Das käme der Umwelt zugute und würde gleichzeitig ihre Lebensbedingungen verbessern.

Mit Hilfe der Organisation Ajde Makedonijas konnten Zekia und ihre Familie vor kurzem aus dem Rom*nja-Lager in einen Zweiraum-Bunga- low einer neu errichteten Siedlung ziehen. Es gibt fließend Wasser, alle sind krankenversichert und bekommen Hilfe von einer Fachkraft für Sozialarbeit, die für Fragen zur Verfügung steht. Wer die Kinder in die Schule schickt, erhält täglich kostenlos ein Essen, das von Supermärkten und Restaurants gespendet wird. Mit dem Müllsammeln macht Zekia trotzdem weiter. Das ist ihr Beruf, etwas anderes hat sie nie gelernt, und sie kennt sich mit Müll so gut aus wie nur wenige.

Annette Herzog interviewte Blazhe Josifovski

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