Wer hat Plastik erfunden?
Bakelit, der erste vollsynthetische Kunststoff
New York, 1907. Leo Hendrik Baekeland experimentiert in seinem Labor. Er ist ein Mann mit Unternehmergeist. Schon als junger Mensch ist der begabte Chemiker aus seiner belgischen Heimatstadt Gent nach Amerika gezogen und hat hier ein Fotopapier entwickelt, das ihn schlagartig reich gemacht hat. Nun will er einen künst- lichen Stoff entdecken, der teure Naturmaterialien ersetzen soll.
Es ist die Zeit großer wissenschaftlicher und technischer Fortschritte. Die Industrialisierung stürmt voran. Medizinische Erkenntnisse und landwirtschaftliche Fortschritte führen zu einem nie dagewesenen Wachstum der Bevölkerung. Immer mehr Menschen müssen mit Nahrung, Kleidung und Dingen des täglichen Lebens ver- sorgt werden. Doch natürliche Ressourcen wie Wolle, Naturseide, Perlmutt, Horn oder Elfenbein sind oft nur in begrenzter Menge vorhanden, und viele von ihnen müssen mit Schiffen aus weit entfernten Teilen der Welt geholt werden.
Auch die Industrie verlangt nach neuen Werkstoffen, um die ersten Autos und neue Maschinen zu bauen und die schnell wachsenden Städte zu elektrifizieren. Besonders dringend sucht
man nach einem hitzebeständigen Material zur Isolation elektrischer Leitungen. Bisher wurde dafür Schellack verwendet, der aus dem Sekret der weiblichen roten Schildlaus gewonnen wird. Allerdings brauchen 15.000 Läuse ein ganzes Jahr, um nur ein Kilo Schellack zu produzieren. Zudem muss das Material aufwendig aus Indien und Thailand transportiert werden, wo die rote Schildlaus beheimatet ist.
Baekeland ist natürlich weder der Erste noch der Einzige, der künstliche Stoffe erfinden will. Schon ein halbes Jahrhundert vor ihm, 1839, hat der Amerikaner Charles Goodyear herausgefunden, wie sich aus dem Naturkautschuk tropischer Bäume, unter Zusatz von Schwefel und Hitze, Gummi herstellen lässt. Daraus wurden beispielsweise Füllfederhalter, Klaviertasten und Reifen produziert – und auch Radiergummis, so- dass man zum Radieren kein Brot mehr benutzen musste. Auch für die Umrandung von Billard- tischen erwies sich Gummi als geeignetes Material. Billard war zu dieser Zeit so beliebt wie heute die Computerspiele: Überall auf der Welt wurde es gespielt. Die Billardkugeln aber waren aus afrikanischem Elfenbein. Für die Produktion von nur drei Kugeln benötigte man einen ganzen Elefantenstoßzahn. Die Jagd war grausam und die Beschaffung des Elfenbeins teuer. Ein amerikanischer Billardspieler schrieb deshalb 1864 ein hohes Preisgeld für denjenigen aus, der einen Ersatzstoff für Billardkugeln finden würde.
Davon angespornt, entwickelte ein New Yorker Drucker namens John Wesley Hyatt fünf Jahre später Zelluloid, das auf der Basis von Zellulose, den Zelltrennwänden von Pflanzen, hergestellt wurde. Für Billardkugeln war das neue Material leider jedoch nicht geeignet, denn die Kugeln knallten beim Aufprall zu laut und prallten nicht gut genug voneinander ab. Hyatt erhielt den Preis deshalb nicht. Trotzdem hatte er mit Zelluloid den ersten thermoplastischen Kunststoff erfunden. Er gründete mit seinem Bruder mehrere Firmen, die von nun an Gegenstände aus Zelluloid produzierten, die vorher teure Luxusprodukte aus Elfenbein
waren, zum Beispiel Messergriffe, Kämme oder Modeschmuck. Zelluloid hatte allerdings einen großen Nachteil: Es war sehr schnell entflammbar.
In seinem New Yorker Privatlabor wittert Baekeland 1907 nun eine Chance, die ihm Geld und neuen Ruhm verspricht. Er beginnt, sich für Phenol und Formaldehyd zu interessieren. Beide Chemikalien sind häufige Abfallprodukte aus der chemischen Industrie und ausreichend vorhanden. Schon andere vor Baekeland hatten entdeckt, dass sich die beiden Stoffe zu einer teer- oder harzähnlichen Masse verbanden. Sie hatten diese Masse aber immer nur als ein störendes Nebenprodukt betrachtet, das die Reagenzgläser verklebte und zu nichts zu gebrauchen war.
Baekeland geht systematisch vor. Er entwickelt einen Druckbehälter und untersucht den Einfluss von Temperatur und Druck auf das Gemisch. Das Ergebnis? Lange Zeit passiert nichts. Bis er ein paar der farblosen Phenolkristalle in eine stechend riechende Formaldehydlösung wirft, diese auf fast 200 Grad Celsius erhitzt und einen weichen Stoff aus dem Wasser zieht, der sich in Formen pressen lässt und unter Wärme und Druck schnell hart wird. Das neue Material hat hervorragende Eigenschaften: Es fängt kein Feuer, schmilzt und bricht nicht, ist langlebig und leitet weder Wärme noch Elektrizität. Außerdem ist es günstig herzustellen. Baekeland meldet den Stoff als Patent an und benennt ihn, angelehnt an seinen Namen, Bakelit. Er hat damit einen Kunststoff entdeckt, der keine in der Natur bekannten Moleküle mehr enthält. So wird Bakelit zum ersten rein synthetischen Kunststoff und damit zum Vorgänger des modernen Plastik.
Nun hat die Elektroindustrie endlich ihren Isolierstoff und die Automobilindustrie ein hitzebeständiges und widerstandsfähiges Material. Mit Textilfasern versetzt, entstehen aus Bakelit auch Glühbirnenfassungen, Lautsprecher, Büroartikel, Radiogehäuse, Lichtschalter, Telefone sowie Griffe für Töpfe und Pfannen. Und nebenbei eignet es sich hervorragend für Billardkugeln! Typisch für die meisten Gegenstände aus Bakelit ist ihre braune oder schwarze Farbe, denn Bakelit dunkelt nach und wird deshalb von vornherein dunkel eingefärbt. Außerdem haben die Gegenstände kaum scharfe Ecken und Kanten, weil sich Bakelit nur aus abgerundeten Gussformen gut lösen lässt. Dadurch bestimmt das neue Material auch das Design der Produkte und beeinflusst den Geschmack jener Zeit bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts.
Heutzutage wird Bakelit nur noch dort verwendet, wo ein besonders hitzebeständiges Material zum Einsatz kommen soll, zum Beispiel bei Pfannenstielen. Die Entwicklung ist weitergegangen, und farbenfrohe Plastikarten mit noch besseren und vielfältigeren Eigenschaften haben Bakelit weitgehend abgelöst. Sie basieren jedoch alle auf Baekelands Entdeckung. Und viele Alltagsgegenstände aus Bakelit werden inzwischen begeistert gesammelt.
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